´reflecting space`
ein Text von Dr. Peter Lodermeyer anlässlich der Ausstellung reflecting space I Malerei im Kirchenraum I Krypta, 2022, in St. Gertrud, Köln
Die katholische Pfarrkirche St. Gertrud im Agnesviertel der Kölner Neustadt ist ein von 1962 bis 1965 realisierter Bau des bekannten Kölner Architekten Gottfried Böhm. Im Inneren präsentiert sie sich als ein hoher, offener, ungegliederter Raum, der die Besucher jäh aus dem städtischen Kontext in eine hermetisch abgeschlossene, nur spärlich beleuchtete, höhlenartige Umgebung holt, was unmittelbar eine Zurückgeworfenheit auf sich selbst angesichts eines überwältigenden, aber wegen der spröden Betonstruktur alles andere als anheimelnden Raumgefühls mit sich bringt.
Die etwa sieben mal acht Meter messende Installation, die Claudia Larissa Artz mittig auf dem mit rotem Ziegelstein ausgelegten Boden der Kirche ausgebreitet hat, entstand aus einer langjährigen Vertrautheit mit dieser Architektur und zeugt von einer starken Affinität der Künstlerin zu den ästhetischen Grundprinzipien, die in St. Gertrud zur Anwendung kommen. Die Initialidee der Künstlerin bestand darin, eine Arbeit zu entwickeln, die auf die formalen Besonderheiten von St. Gertrud, insbesondere auf die komplexe Deckengestaltung mit den starken, lateral abstrahlenden, wie gefaltet wirkenden Betonelementen Bezug nimmt, und eine Struktur zu schaffen, die diese Eigenheiten in einem anderen Medium spiegelt. Bemerkenswert ist, dass Artz zunächst an eine Spiegelung im optischen Sinne dachte, an eine Installation aus Kartons, die mit Goldfolie bezogen sind. Doch diese Idee hat sie bald, aufgegeben und sich ganz auf Materialien konzentriert, mit denen sie als Malerin zutiefst vertraut ist: Papier und Farbe. Doch das Papier bekommt bei ihr über die Eigenschaft als Bildträger hinaus eine Aufwertung als plastisches Material, indem sie 155, jeweils 70 mal 50 Zentimeter messende Bögen von Aquarellpapier nach einem komplizierten, zuvor ausgearbeiteten Plan faltete, wobei sich die Faltungen nicht in genauer Nachahmung, aber doch merklich an den Fältelungen der Betondecke im Kirchenraum orientieren. So „spiegelt“ die Installation aus gefaltetem Papier die Deckenkonstruktion, indem sie dem Raumgefüge einen zweiten Pol hinzufügt und so ein Spannungsfeld zwischen Oben und Unten schafft, was den Betrachterblick zu einem ständigem Vergleich ermutigt. Das helle, fragile, leichte Material Papier dient so als ein fassliches Gegenüber zu den dunklen, schweren, massiven, physisch unerreichbaren Betonstrukturen. Der Titel „reflecting space“ lässt sich in mehrfacher Weise verstehen: Zum einen meint er die Spiegelung des Raumes, aber andererseits auch den gespiegelten Raum selbst; zudem ist „Spiegelung“ hier in einem eher strukturellen oder ästhetischen und nicht im optischen Sinne gemeint – die Reflexion ist vor allem ein gedankliches und emotionales Reflektieren über die installativ erweiterte und modifizierte Raumsituation.
Die Bemalung der Papierbögen ist so subtil, dass sie womöglich erst auf den zweiten oder dritten Blick ins Auge fällt. Dennoch ist sie von entscheidender Bedeutung für die Wirkung der Installation. Die Oberseiten der Papiere hat Claudia Artz entweder mit einem kühleren oder einem wärmeren Weißton versehen, die Unterseiten, die an den hochgeklappten Rändern partiell sichtbar werden, zeigen stellenweise ein zartes Goldocker oder ein mit Blaugrün abgetöntes Titanweiß. All das bewirkt ein fast unmerkliches, aber doch extrem wichtiges Einfangen und Kanalisieren des im Kirchenraum wirksamen Lichts. Wer sich eine Zeitlang in St. Gertrud aufhält, wird schnell bemerken, dass die Lichtverhältnisse aufgrund der spärlichen Fensteröffnungen in einer permanenten Veränderung begriffen sind. In den Vertiefungen und Erhebungen der Papierfalten scheint sich das Licht zu verfangen und entlang der gemalten Partien zu fließen. Dadurch entsteht die Illusion einer ganz langsamen Ausdehnung, so als würde sich die Installation über ihre Grenzen hinaus am Boden ausdehnen.
Ihrer Installation im Zentralraum von St. Gertrud hat Claudia Artz eine Auswahl von 14 kleinformatigen Gemälden auf Leinwand zur Seite gestellt, die in den Jahren 2007 bis 2022 entstanden sind. Ob die Zahl 14 auf die traditionell 14 Stationen des Kreuzweges anspielt oder sich zufällig ergeben hat, sei dahingestellt, wichtiger ist die Positionierung der Bilder in der Krypta der Kirche, einem stillen, kargen, üblicherweise für Kontemplation und Gebet reservierten Raum, in dem nichts von der eingehenden Betrachtung der Bilder ablenkt. Dabei wird dann schnell klar, dass die Installation im Hauptraum sich einer Formensprache bedient, die in den Gemälde längst entwickelt und vorbereitet wurde, und dass die Grundprinzipien dieser abstrakten, auf geraden Linien basierenden Bilder offensichtlich mit der architektonischen Formensprache korrespondieren, die Gottfried Böhm für St. Gertrud zugrunde gelegt hat. In den Bildern fällt bald ein Hang zu Ambivalenzen auf. In den früheren Arbeiten macht sich dieser im Umspringen von Form und Grund bemerkbar. In den komplexeren späteren Arbeiten kann man einen Widerspruch zwischen zentripetaler und zentrifugaler Bewegung der dicht gefügten geometrischen Figuren beziehungsweise ein Oszillieren zwischen der illusionistischen Dreidimensionalität der kristallin anmutenden Formen und dem gleichzeitigen Eingebundensein in die Malfläche konstatieren. Wer sich diese Bilder intensiv anschaut, wird unweigerlich eine Aktivierung und Bereicherung der eigenen Wahrnehmung bemerken und ein genaueres Sehen einüben, das beim Erfahren der Installation „reflecting space“ im Kirchenraum von St. Gertrud ins Räumliche gesteigert wird.